Was ist Komparatistik?
Das Fach Komparatistik trägt auch den Namen Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Dieser Name weist auf zwei verschiedene, eng miteinander verknüpfte Arbeitsgebiete hin:
- die Allgemeine Literaturwissenschaft
- die Vergleichende Literaturwissenschaft.
1. Allgemeine Literaturwissenschaft
Als Allgemeine Literaturwissenschaft widmet sich die Komparatistik der Untersuchung, Erforschung, Interpretation einzelner Werke und Werkkomplexe im Zeichen umfassender Aspekte und Fragestellungen (vgl. die Themenschwerpunkte in § 7 der Studienordnung).
- Gegenstand der Allgemeinen Literaturwissenschaft sind die Grundbegriffe der Poetik, Rhetorik und Ästhetik, also das grundlegende Instrumentarium, mit dem sich literarische Texte beschreiben lassen und mit dem sie in der Vergangenheit beschrieben worden sind. Die von einem Theoretiker oder Interpreten literarischer Texte verwendete Begrifflichkeit impliziert u.a. wichtige Vorentscheidungen über das jeweilige Konzept von Literatur (Was ist Literatur? Was bewirkt Literatur? Wie läßt sich die Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit beschreiben?).
Beispiel: Welche unterschiedlichen Forderungen und Ansprüche sind seit der Antike mit der Definition von Literatur als "Mimesis" ("Nachahmung", "Darstellung") der Wirklichkeit verbunden worden?
- Ein zweites wichtiges Teilgebiet bildet die Gattungstheorie, welche sich der Charakteristik und dem Vergleich verschiedener Textsorten widmet und auch dort, wo sie selbst synchron verfährt, unter diachron-historischen Gesichtspunkten betrachtet werden muß: Gattungen sind keine überhistorischen Konstanten.
Beispiel: Welche verschiedenen Funktionen übernimmt die Textform der fiktiven Autobiographie in der Literatur des 18. und des 20. Jahrhunderts?
- Im Laufe der Geschichte der Auseinandersetzung mit Literatur als geschichtlichem Phänomen sind insbesondere seit der Romantik verschiedene Modelle der Literaturgeschichtsschreibung entwickelt worden. Diese lassen nicht nur Rückschlüsse auf das jeweils zugrundeliegende Literaturverständnis zu, sie haben vielfach auch Einfluß auf die Geschichte der Rezeption literarischer Texte, ja selbst auf deren Produktion.
Beispiel: Welchen Modifikationen unterliegt der Begriff "Romantik" in unterschiedlichen Darstellungen zur Literaturgeschichte, und welchen Gegenbegriffen wird er dabei zugeordnet?
- Theorien des Künstevergleichs bilden ein wichtiges Teilgebiet der Ästhetik und haben eine bis auf die Antike zurückreichende Tradition. Nicht selten widmen sich literarische Autoren entsprechenden Fragen, um die Besonderheiten ihres eigenen Darstellungsmediums zu reflektieren.
Beispiel: Inwiefern erschließt Lessings Abhandlung "Laokoon" neue Perspektiven auf die Unterschiede zwischen Malerei und Dichtung, und inwiefern ist die Akzentuierung des Unterschiedes zwischen beiden Künsten bei Lessing charakteristisch für einen Dramatiker?
- Die Arbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Interpreten von Literatur steht im Zeichen einer großen Zahl von literaturwissenschaftlichen Ansätzen und Methoden. Der jeweilige Ansatz und die daraus resultierende Perspektive der Beschäftigung mit literarischen Texten entscheidet nicht nur maßgeblich über Art und Aussagegehalt der jeweiligen Ergebnisse, sondern er impliziert sogar eine jeweils besondere Konstruktion des Gegenstandsbereichs "Literatur": Vom Standpunkt unterschiedlicher methodischer Ansätze aus betrachtet, erscheint "Literatur" jeweils als etwas anderes. Geläufige Stichworte zur Kennzeichnung solcher Ansätze sind u.a. "Hermeneutik", "Dekonstruktion", "Strukturalismus", "Semiotik", "Systemtheorie" usw.; diese und andere Namen literaturwissenschaftlicher Methoden verweisen auf verschiedene Beschreibungsmodelle von Literatur und literarischer Kommunikation, auf verschiedene Typen literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und jeweils verschiedene literatur-, text- und erkenntnistheoretische Grundlegungen. Nicht nur die literarischen Texte als solche sind Gegenstände literaturtheoretischer Modellbildung, sondern auch die Produzenten und Rezipienten von Literatur sowie die Rahmenbedingungen, unter denen Literatur entsteht und gelesen wird.
Beispiel: Welche unterschiedlichen methodischen Prämissen leiten Vertreter verschiedener methodischer Ansätze bei ihrer jeweiligen Interpretation von Kleists Drama "Der zerbrochne Krug" und welche Konsequenzen hat dies für die Befunde?
2. Vergleichende Literaturwissenschaft
Als Vergleichende Literaturwissenschaft widmet sich die Komparatistik schwerpunktmäßig dem Vergleich zwischen Werken und Autoren verschiedener Sprachräume ("Nationalliteraturen"), und zwar unter verschiedenen Aspekten (vgl. die Themenschwerpunkte in § 7 der Studienordnung).
- Untersucht und interpretiert werden literarische Autoren und ihre Werke im weltliterarischen Kontext. Hier geht es darum, welche Art von Beziehungen der jeweils analysierte Text zu anderen Werken unterhält, wie er durch sie geprägt ist, wie er explizit und implizit auf sie Bezug nimmt, kurz: wie der jeweilige Autor sein Werk in das komplexe Netzwerk der Literatur eingeflochten hat und welche Konsequenzen sich daraus für Lektüre und Interpretation ergeben. Der Terminus "Weltliteratur" ist nicht vorrangig im Sinne einer Bewertung bestimmter Werke als kanonisch (als Literatur von "Weltrang") zu verstehen, sondern soll zunächst einmal nur zum Ausdruck bringen, daß es sinnvoll ist, literarische Texte in einem globalen literarischen Kontext zu sehen. Gleichwohl kann es nützlich sein, über einen Kanon der Weltliteratur nachzudenken und sich gegebenenfalls auf ein gemeinsames Bezugsfeld von Grundlagentexten zu verständigen (vgl. die Paradigmen der Weltliteratur).
Beispiel: Welche Beziehungen zu Werken der Weltliteratur unterhält Italo Calvinos Roman "Il barone rampante" (dt. "Der Baron auf den Bäumen"), und welche Funktion haben die expliziten und impliziten Hinweise auf solche Werke innerhalb des Textes sowie für seine Rezeption?
- Genetische und typologische Vergleiche an Werken der Weltliteratur widmen sich der vergleichenden Betrachtung von Texten verschiedener Autoren und Epochen, und zwar zum einen unter Akzentuierung ihrer jeweiligen historischen und individuellen Entstehungsbedingungen, zum anderen im Zeichen der Differenzierung verschiedener Text-Typen.
Beispiel: Welche historischen und gattungsspezifischen Parameter sind bei einem Vergleich des Goetheschen Faust-Dramas mit Thomas Manns Roman "Doktor Faustus" zu berücksichtigen, und unter welchen Aspekten können diese beiden Werke miteinander verglichen werden?
- Als Stoff- und Motivgeschichte widmet sich die Komparatistik der vergleichenden Betrachtung von Werken und Werkgruppen, die durch die Verwendung gemeinsamer Motive oder die Bearbeitung gleichartiger Stoffe miteinander verwandt und somit besonders gut vergleichbar sind. Dabei stellt sich u.a. die Frage nach Entwicklungslinien in der Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen motivlichen und stofflichen Grundlagen sowie die nach dem Bedeutungswandel, dem Stoffe und Motive auf ihrer Reise durch die Zeit und durch die Texte unterliegen.
Beispiel: Welchen Entfaltungen und Modifikationen unterliegt der Mythenkomplex um den Titanen Prometheus von der Antike bis zur Gegenwart?
- Die Thematologie befaßt sich ebenso panoramatisch mit dem Vergleich literarischer Themen in Werken verschiedener Epochen und Gattungen. (Anzumerken ist, daß sich Stoff- und Motivgeschichte einerseits, Thematologie andererseits überschneiden und daß erstere im französischen und englischen Sprachraum als "thématologie" bzw. "thematics" bezeichnet werden.)
Beispiel: Welche Entwicklungen und Modifikationen charakterisieren die verschiedenen literarischen Darstellungen des Herumirrens von Helden in Labyrinthen von der Antike bis zur Gegenwart?
- Gegenstand der komparatistischen Intertextualitätsforschung sind die verschiedenartigen Beziehungen und Typen von Beziehungen, welche zwischen literarischen und ggf. auch zwischen diesen und nicht-literarischen Texten bestehen. Erörtert werden die Spielformen und Folgen der Vernetzung von Texten miteinander, aber auch Fragen, welche die grundsätzliche Abgrenzbarkeit von Texten gegeneinander betreffen.
Beispiel: Auf welchen Ebenen und mit welchen Mitteln verknüpft Umberto Eco seinen Roman "Il nome della rosa" (dt. "Der Name der Rose") mit anderen literarischen, philosophischen und historischen Texten, und welche Konsequenzen hat dies für die Interpretation des Romans?
- Die vergleichende Rezeptionsgeschichte befaßt sich mit der Rezeption literarischer Texte im Zeichen historischer, nationaler und kultureller Vergleiche unterschiedlicher Interessen und Zugangsweisen.
Beispiel: Wie ist der "Don Quijote" von Miguel de Cervantes seit seiner Entstehung zu Beginn des 17. Jahrhunderts rezipiert worden, und inwiefern machen sich in der Geschichte der Deutungen des Ritters von la Mancha unterschiedliche nationale, historische und individuelle Voraussetzungen geltend?
- Gegenstand der Übersetzungsforschung sind neben den einzelnen Übersetzungen literarischer Texte und - gegebenenfalls - der Geschichte ihrer verschiedenen Übersetzungen auch die dabei mittelbar maßgeblichen Konzepte literarischer Übersetzung.
Beispiel: Wodurch unterscheiden sich die verschiedenen (und zahlreichen) Übersetzungen des Kaspar-Hauser-Gedichts "Gaspar Hauser chante" von Paul Verlaine ins Deutsche, und wie sind die übersetzungsbedingten Metamorphosen des Gedichts zu charakterisieren?
- Die vergleichende Literaturgeschichte konzentriert ihr Interesse auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede jeweils nationaler Literaturgeschichten sowie auf den Vergleich nationalspezifischer Spielformen der Literaturgeschichtsschreibung.
Beispiel: Welche unterschiedlichen Formen des Vergleichs zwischen antiker und "moderner" Literatur entwickeln die deutsche und die französische Romantik?
- Die unterschiedlichen Bilder fremder Länder, Regionen und Kulturen, welche insbesondere im Medium literarischer Darstellungen entworfen werden (und sich dabei der Beurteilung anhand der Kategorie des "Realistischen" oder "Authentischen" vielfach entziehen) sind Gegenstand der Imagologie. Diese leistet damit u.a. einen Beitrag zur Erforschung der Modalitäten und der Parameter, der Möglichkeiten und Grenzen inter-nationaler und inter-kultureller Kommunikation.
Beispiel: Welche Bilder von China entwirft die Literatur des Abendlandes von Marco Polos Reisebericht "Il Milione" bis zu Herbert Rosendorfers "Briefen in die chinesische Vergangenheit" und inwiefern verraten diese Bilder etwas über ihre abendländischen Produzenten?
- Die intermediale Komparatistik befaßt sich mit Wechselbeziehungen zwischen der Literatur und anderen Medien ästhetischer Darstellung und Gestaltung. Verglichen werden dabei u.a. die verschiedenen Darstellungsmedien als solche unter dem Aspekt ihrer Besonderheiten und strukturellen Vergleichbarkeiten; erörtert werden Fragen der "Übersetzbarkeit" von Stoffen, Inhalten und Figurationen vom einen ästhetischen Medium ins andere, der Darstellbarkeit von Werken etwa der bildenden Kunst und der Musik im Medium Literatur, aber auch der "Übersetzung" literarischer Vorgaben in andere ästhetische Medien wie beispielsweise auch den Film.
Beispiel: Welche Bedeutung haben die Beschreibungen von Gemälden, musikalischen Kompositionen und architektonischen Gebilden für Marcel Prousts Roman "À la recherche du temps perdu" (dt. "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"), und inwiefern bestehen strukturelle Beziehungen des Romantextes zu Werken der Malerei, Musik und Architektur?
- Schließlich ist auch die Geschichte der Komparatistik Gegenstand des Faches selbst, schon weil sie unter anderem die Geschichte der eigenen wissenschaftlichen Begrifflichkeit einschließt.
Beispiel: Welche unterschiedlichen Konzepte von "Weltliteratur" haben die Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit in den verschiedenen europäischen Ländern entwickelt?
Gemeinsam ist den verschiedenen Arbeitsbereichen (Themenschwerpunkten) der Vergleichenden Literaturwissenschaft das Interesse an Prozessen der Überschreitung von Grenzen: von nationalen, historisch-epochalen und medialen sowie von Text-Grenzen verschiedenster Art.
Darüber hinaus unterhält die Komparatistik zu anderen Fächern enge Affinitäten:
- zu den anderen Literaturwissenschaften (Germanistik, Romanistik, Anglistik/ Amerikanistik etc.); hier berühren und überschneiden sich insbesondere die Interessen an Konzepten und Methoden der Literaturtheorie und der Literaturgeschichtsschreibung.
- zu anderen nicht-literaturwissenschaftlichen Disziplinen (Geschichte, Philosophie, Kunst- und Musikwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft etc.): interdisziplinäre Themen und Fragestellungen kommen den Interessen des Faches in besonderem Maße entgegen.
Einführungsliteratur
- Birus, Hendrik (Hrsg.): Germanistik und Komparatistik. Stuttgart u.a.: Metzler. 1995.
- Corbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik. Berlin: Schmidt. 2000.
- Dyserinck, Hugo: Komparatistik. Eine Einführung. 3., durchges. u. erw. Aufl. Bonn: Bouvier. 1991 (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 1).
- Fügen, Hans-Norbert: Vergleichende Literaturwissenschaft. Düsseldorf, Wien: Econ. 1973.
- Kaiser, Gerhard: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft. Forschungsstand, Kritik, Aufgaben. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. 1980.
- Konstantinovic, Zoran: Vergleichende Literaturwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblick. Bern u.a.: Lang. 1988 (= Germanistische Lehrbuchsammlung 81).
- Pichois, Claude: Vergleichende Literaturwissenschaft: eine Einführung in die Geschichte, die Methoden und Probleme der Komparatistik. Dt. v. Peter André Bloch. Düsseldorf: Schwann. 1971.
- Rüdiger, Horst: Komparatistik. Aufgaben und Methoden. Stuttgart u.a.: Kohlhammer. 1973 (= Sprache und Literatur 85).
- Schmeling, Manfred (Hrsg.): Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis. Wiesbaden: Athenaion. 1981 (= Athenaion-Literaturwissenschaft 16).
- Weisstein, Ulrich: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft. Stuttgart u.a.: Kohlhammer. 1968 (= Sprache und Literatur 50).
- Zima, Peter V.: Komparatistik: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft. Unter Mitarbeit v. Johann Strutz. Tübingen: Francke. 1992 (= UTB für Wissenschaft 1705).