Nachruf auf Prof. Marianne Kesting (1930-2021)

Eingestellt am: 29.11.2021



Marianne Kesting, die erste Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der RUB, ist am 21. November 2021 verstorben. 

Am 16. März 1930 in Bochum geboren, machte sie 1950 in Wetter/Ruhr das Abitur und nahm zunächst ein Studium an der Freiburger Hochschule für Musik sowie ab 1950 dann ein Studium der Neueren Germanistik, Musik- und Theaterwissenschaft an der Universität München auf. Dort promovierte sie 1957 mit einer Dissertation über das epische Theater. In den folgenden Jahren arbeitete sie als Theater- und Kunstkritikerin, als Herausgeberin sowie ab 1963 als Leiterin der Literaturabteilung des Hessischen Rundfunks. Kesting schrieb u.a. für die ZEIT und für die FAZ und schlug durch ihr Wirken viele Brücken zwischen Wissenschaft und ambitioniertem Feuilleton. 1971 habilitierte sie sich an der Kölner Universität, nahm 1972 einen Ruf an die Universität Bielefeld an und wechselte nach einem Ruf der noch jungen Ruhr-Universität nach Bochum. Seit 1975 hatte sie die neu eingerichtete und in Bochum lange Zeit einzige Professur im Bereich Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft inne und nahm mit einem Team bald nach ihrem Amtsantritt den Lehrbetrieb auf. 1995 trat sie in den Ruhestand und übersiedelte nach einigen Jahren aus Bochum nach Köln, wo sie bis zu ihrem Tod wohnte.

Marianne Kesting verfügte über eine breite Kompetenz in mehreren westlichen Literaturen, mit einem wichtigen Schwerpunkt in der Moderne, sowie in den Bereichen Musik, Theater und Kunst.  Jahre bevor sich Künstevergleich / Comparative Arts und Studien zur Intermedialität der literarischen Moderne als neue Forschungsparadigmen etablierten, praktizierte sie diese in Forschung und Lehre erfolg- und einflussreich.

Wegweisend wirkten auch ihre Interessen an der modernen und zeitgenössischen Literatur, Poetik und Ästhetik, deren wichtige Tendenzen sie in vergleichender Arbeit darstellte. Dies schlug sich auch in ihrer Mitarbeit in der wegweisenden Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ nieder. Während sich die literaturwissenschaftliche Forschung und Lehre vielerorts noch stark an einem Klassikerkanon orientierten, richtete Kesting das eigene Interesse sowie das ihrer Schüler, Studierenden und Dialogpartner gern auf Gegenwartstexte, auch auf (noch) nicht Kanonisierte und Etablierte, auf Avantgardistisches, auf Verfremdungsstrategien, Konventionsbrüche, ästhetische Normverstöße und deren kreatives Potenzial. „Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste“, der Titel eines ihrer Bücher (erschienen 1970), umreißt zusammen mit einem Programm moderner Literatur und Ästhetik auch ein Forschungsprogramm für Komparatisten.

Persönlich bekannt mit Bertolt Brecht, aus eigener Anschauung vertraut mit der Arbeit seines Ostberliner Ensembles in den 1950er Jahren, war sie eine Spezialistin für das epische Theater und verfasste sie mit ihrer 1959 bei Rowohlt erschienenen Brecht-Monographie ein ausgesprochen erfolgreiches, vielgelesenes Buch, das bis zur Einstellung der Reihe 37 Auflagen erlebte. Im gleichen Jahr erschien auch ihre Dissertation „Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas“ (1959, 8. Aufl. 1989), mit dem sie ein damals zeitgenössisches Themenfeld grundlegend erschloss. Als Herausgeberin von ins Deutsche übersetzten Stücken Ionescos trug sie maßgeblich auch zu dessen breiterer transnationaler Rezeption bei.

Dissertation, Habilitation, weitere Monographien sowie viele wissenschaftliche Aufsätze zu Literatur, Kunst und Theater, zu Werken verschiedener Literaturen der vergangenen Jahrhunderte bis zur Gegenwart, zu Fragen der modernen Ästhetik, zu Konzepten der Fiktion und der Imagination und anderen Basisthemen komparatistischer Forschung haben zum Aufschwung des jungen Fachs Komparatistik in den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erheblich beigetragen. Sie hat der Bochumer Komparatistik ein Gesicht gegeben, aber nicht nur dieser, sondern dem Fach insgesamt, dessen vergleichende Ansätze und Methoden sie als besondere Chance wahrnahm und nutzte, um die Vernetzung literarischer Werke mit umfassenden ästhetischen und geschichtlich-gesellschaftlichen Themen zu beleuchten.

Monika Schmitz-Emans 

Auswahlbibliographie

  • Bertolt Brecht in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1959 (37. Aufl. 1998).
  • Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas. Stuttgart 1959 (8. Aufl. 1989).
  • Panorama des zeitgenössischen Theaters. 50 literarische Porträts. München 1962 (revidierte und erweiterte Neuaufl. 1969).
  • Vermessung des Labyrinths. Studien zur modernen Ästhetik. Frankfurt am Main 1965.
  • Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste. München 1970.
  • Auf der Suche nach der Realität. Kritische Schriften zur modernen Literatur. München 1972.
  • Der Dichter und die Droge. Köln 1973.
  • Herman Melville: Benito Cereno. Vollständiger Text der Erzählung (übers. von W. E. Süskind). Dokumentation. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1972 (2., erweiterte Aufl. Insel, Frankfurt am Main 1983).
  • Die Diktatur der Photographie. Von der Nachahmung der Kunst bis zu ihrer Überwältigung. München / Zürich 1980.

 Festschrift

  • Paul Gerhard Klussmann; Willy Richard Berger, Burkhard Dohm (Hg.): Das Wagnis der Moderne. Festschrift für Marianne Kesting. Frankfurt u.a. 1993.