Habilitationsprojekte

Winfried Eckel

Zwischen Bildern und Tönen: Die Literatur der Moderne aus dem Geiste der Musik

1. Allgemeiner Aufriß des Projekts

Das Projekt fragt nach der Bedeutung der Musik für Selbstverständnis und Verfahrensweisen der modernen Literatur seit der Romantik, der Literatur unter den Bedingungen der Autonomie. Es geht von der Beobachtung aus, daß die gesellschaftliche Autonomisierung der Kunst im 18. Jahrhundert begleitet war von einer ästhetischen Autonomisierung der einzelnen Künste, deren mediale Eigengesetzlichkeiten erstmals systematisch erfaßt und reflektiert wurden. Vor allem Literatur und Malerei, Literatur und Musik wurden in einer Serie von Theorieentwürfen von Dubos über Harris bis Lessing gegeneinander abzugrenzen und in ihrer Besonderheit zu bestimmen gesucht. Um 1800 findet im Zuge dieser Ausdifferenzierungen die reine Instrumentalmusik, also die von jeder Begleitung durch Worte angeblich befreite Musik, erstmals als eigenständige Kunst und zugleich Inbegriff der Musik allgemeine Anerkennung. Dabei mutet durchaus paradox an, daß sich die Apotheose dieser wortlosen Musik ausgerechnet in einer Reihe zum Teil wortgewaltiger Texte in der Literatur der Romantik vollzieht; paradox auch, daß die von der Sprache getrennte reine Musik ihrerseits wieder als Sprache bestimmt wird, als eine Sprache gar, die der gewöhnlichen Wortsprache überlegen sein soll. Sofern noch die absolute Musik im Licht von Literatur und Sprache erscheint, wird die soeben erreichte Mediendifferenzierung sogleich wieder in Frage gestellt. Tatsächlich sind um 1800 auch allenthalben Reintegrationsversuche zu beobachten. Während die großen Entwürfe der idealistischen Ästhetik die real geschiedenen Künste in der Reflexion wieder miteinander zu vermitteln suchen, setzt die romantische Literatur zu einer Aufhebung der Künste, insbesondere der Musik, ins Medium der Literatur selbst an. Sie entwirft sich im Bild der reinen Musik ein ästhetisches Ideal, das es mit den Mitteln der Poesie einzuholen gilt. Was sind die poetologischen, ästhetischen, anthropologischen und soziologischen Gründe für diesen Vorgang? Und welche poetologischen, ästhetischen, anthropologischen und soziologischen Konsequenzen resultieren daraus, daß bis in die Gegenwart die Literatur immer wieder am Vorbild der wortlosen Musik sich zu inspirieren sucht?

Da die Beziehungen zwischen den Künsten wie auch diese selbst nicht unabhängig von ihren sich wandelnden diskursiven Bestimmungen sind, zielt das Forschungsvorhaben auf die Entfaltung der systematischen Frage nach Literatur und Musik in einer grundsätzlich historischen Perspektive. Es versteht sich so als Beitrag zu einer Theorie der ästhetischen Moderne, deren Entwicklungen in komplexer Weise auf die der gesellschaftlichen Moderne bezogen sind. Eine nicht nur ästhetisch-poetologische Relevanz hat die Fragestellung schon deshalb, weil im Diskurs des 18. Jahrhunderts die Frage nach der Einheit oder Differenz der Künste eng verknüpft ist mit der Frage nach der Einheit oder Zerspaltung des Menschen bzw. der Gesellschaft. Der Trennung der Künste korrespondiert anthropologisch die Vorstellung eines in seine unterschiedlichen Vermögen (Gesicht, Gehör, Gefühl, Einbildungskraft, Verstand usw.) zerfallenden Menschen, soziologisch das Bild der arbeitsteilig organisierten modernen Gesellschaft im Zeichen der Entfremdung. Der Idee einer möglichen (Wieder-) Vereinigung der Künste eignet darum auch im Blick auf Mensch und Gesellschaft ein durchaus utopisches Potential (Shelley, Wagner).

Vor diesem Hintergrund aber kommt der Herausarbeitung der fast durchweg ambivalenten Funktion, die die Musik für die moderne Literatur übernimmt, eine entscheidende Rolle zu, denn von hier aus fällt ein Licht auf eine wesentliche Zweideutigkeit und Uneinigkeit der Moderne mit sich selbst. Zum einen verbinden sich mit der Idee einer Musikalisierung der Literatur deutlich rückwärtsgewandte Sehnsüchte: Hoffnungen auf die Restitution einer verlorenen Ganzheit. Die impliziten Erwartungen reichen hier über das engere Feld des Ästhetischen (Hoffnungen auf eine andere, sinnlichere Sprache oder eine gleichsam vorbabylonische Sprache allgemeiner Verständlichkeit; auf eine Literatur, in der sich, vermittelt über die pythagoreische Idee der Sphärenharmonie, die geheimen Strukturen des Seins manifestieren) bis in den Bereich des Individuums und des Sozialen (Hoffnungen auf ein neues ganzheitliches Dasein des Einzelnen; auf eine neue soziale Gemeinschaftlichkeit im Zeichen einer die Einzelkünste reintegrierenden Gesamtkunst). Zum anderen aber bedeutet die Orientierung der Literatur an der Musik und die Adaption musikalischer oder für musikalisch gehaltener Verfahrensweisen (auf dem Feld des Ästhetischen wie in allen anderen Bereichen) faktisch oft nur eine weitere Dissoziation: Die zu überwinden gesuchte Differenz von Sprache und Musik wandert gleichsam in die Sprache selber ein, und die Repräsentationsfunktion der Sprache wird in Frage gestellt. Indem durch die Musikalisierung vor allem die traditionell geforderte Anschaulichkeit der Literatur Schaden nimmt, rückt das Ideal einer "sinnlich vollkommenen Rede" (Herder) in weite Ferne. Auch die Zerrissenheit des Menschen sowie die der Gesellschaft erscheinen damit unüberwindbar. Gemäß einer verhängnisvoll anmutenden Dialektik treiben offenbar gerade die Versuche, das moderne Übel der Spaltung zu heilen, den Keil noch tiefer ins Fleisch der Moderne. Doch dies ist gleichsam nur die eine Seite des Vorgangs. Zu der angesprochenen Ambivalenz gehört auch, daß noch die radikalsten Zerstörungen der überlieferten Sprache, wie sie etwa in den Lautdichtungen der Dadaisten vorliegen, in der Hoffnung erfolgen können, gerade auf diese Weise einer Musik und Sprache integrierenden Ursprache wieder nahe zu kommen. Im Zeichen der Musik bleiben die kühnsten Abstraktionen der Moderne oftmals getragen von einem unverhohlenen Mystizismus. Gerade die Destruktion der Sprache kann als Wiedergewinn von Ganzheit erscheinen.

2. Zur konkreten Durchführung

Das Projekt läßt sich von der Einsicht leiten, daß sich eine Musikalisierung der Literatur nur dann angemessen beschreiben läßt, wenn dieser Vorgang nicht isoliert, sondern in seinem spannungsvollen Bezug zu der eher traditionellen Ausrichtung der Literatur an Abbildlichkeit, an einer Repräsentation von Wirklichkeit, ins Auge gefaßt wird. Der Abstraktionsprozeß der literarischen Moderne ist ohne eine Berücksichtigung der bildhaft mimetischen Momente der Literatur nicht zu fassen. Sofern seit der Romantik die Musik als nicht-mimetisches Medium par excellence erscheint, manifestiert sich die Musikalisierung der Literatur vor allem in einer Dynamisierung, Geometrisierung oder Verflüchtigung literarischer Bildlichkeit - mit der Konsequenz, daß im Extremfall Bildlichkeit als literarisches Prinzip überhaupt in Frage gestellt wird. Dabei ist die Tatsache bedenkenswert, daß einige derjenigen Autoren, die mit Entschiedenheit die Musikalisierung vorantreiben, das Bildprinzip und die Forderung nach Bildlichkeit gleichwohl nicht preisgeben. Mimetische und nicht-mimetische Prinzipien stehen in moderner Literatur tendenziell in Konflikt. Dieser Umstand zwingt zu weiteren methodischen Konsequenzen. Denn der spannungsvolle Grundzug der modernen Literatur ist als solcher nur zu erkennen und darzustellen, wenn in der analytischen Beschreibung die Literatur nicht (wie in manchen jüngeren Arbeiten zum Thema) in einen uferlosen, von anonymen Diskursen durchzogenen Text aufgelöst wird, sondern am Begriff des Autors und des Werks als gewiß problematischen Funktionen textueller Einheit festgehalten wird. Nur im Rahmen von durch reale oder fiktive Autorinstanzen beglaubigten (Einzel- oder Gesamt-)Werken kann die Musikalisierung der Literatur als eine potentiell nicht nur bild-, sondern auch werkfeindliche Tendenz sichtbar gemacht werden. Obwohl die literarische Musikalisierung in der Moderne einen einzelne Autoren übergreifenden Vorgang darstellt, bleibt die Untersuchung in ihrem Hauptteil deshalb auf ausgewählte Autoren und Werke fokussiert. Eine Präferierung bestimmter Gattungen gibt es hierbei nicht. Die jüngst behauptete Vorzugsstellung der Prosa als des unter den Bedingungen der Moderne angemessensten Literarisierungsmediums der Musik (Käuser) ist ebensowenig zu rechtfertigen wie die traditionelle Bevorzugung der Lyrik in dieser Rolle.

Die internationalen Verflechtungen im Gegenstandsfeld erfordern die Wahl einer länderübergreifenden, komparatistischen Perspektive. Historische Schwerpunkte der Untersuchung bilden die deutsche und englische Romantik, der französische Symbolismus sowie die europäischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Konkret behandelt werden Texte von Wackenroder, Tieck, Novalis, Shelley, Wagner, Nietzsche, Mallarmé, Valéry, Rilke, Marinetti, Pound, Ball, Schwitters u.a. Unter dem Aspekt der Musikalisierung kann so nicht nur das über den Symbolismus vermittelte Kontinuum Romantik-Avantgarde sichtbar gemacht werden, sondern zugleich gezeigt werden, wie der romantische "Mythos Musik" (Lubkoll) im Fortgang der Moderne bis in seine äußersten Konsequenzen entfaltet und in einigen Manifestationen der experimentellen Literatur geradezu ad absurdum geführt wird. Die Avantgarden erscheinen in manchem als paradoxe Einlösung romantischer Utopien. Wo musikalische Verfahrensweisen der Literatur bis in die Gegenwart persistieren, werden sie zum Teil als "postistische" Reprisen erkennbar.

Einige Zwischenergebnisse des Projekts sind in folgenden Untersuchungen formuliert:


  • Winfried Eckel, Zwischen Bildern und Tönen. Überlegungen zu Mallarmés ,L'Après-midi d'un faune', in: Germanisch-romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 287-301
  • Ders., Musik, Architektur, Tanz. Zur Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Valéry, in: Rilke und die Weltliteratur, hg. von Manfred Engel und Dieter Lamping, Düsseldorf, Zürich 1999, S. 236-259
  • Ders., Bildersturm und Bilderflut in der Literatur der Romantik. Beobachtungen zu Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck, in: Bildersturm und Bilderflut. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, hg. von Helmut Schneider, Ralf Simon und Thomas Wirtz, Bielefeld 2001, S. 211-228